Tijdens de herdenking op 28-11-2014 te Apeldoorn, sprak de heer L. Bergmann het bestuur van onze Stichting aan en hij overhandigde ons het door hem opgemaakte examenstuk. Het examenstuk ging over kamp Rees.   Aan de heer L. Bergmann werd gevraagd of  wij dit verslag op onze site mochten plaatsen. Dat bleek geen bezwaar te zijn. Wij danken bij deze de heer l. Bergmann voor zijn uitvoerige verslag.

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Universität Duisburg-Essen

Fakultät für Geisteswissenschaften

Historisches Institut

1944/1945: Das Zwangsarbeiterlager in Rees

Zwischen Verdrängen und Erinnern – eine wenig bekannte niederrheinische Unrechtsstätte und die Geschichte ihrer Aufarbeitung in Deutschland und den Niederlanden

Bachelor-Arbeit zur Erlangung des Bachelor-Grades Bachelor of Arts

Gutachter: Prof. Dr. Ralf-Peter Fuchs, Prof. Dr. Frank Becker

Verfasser der Arbeit:

Lukas Bergmann

Martrikel Nr.:   2272448

Inhaltsverzeichnis ;

Einleitung

  1. Das Lager Rees

2.1            Die Razzien

2.2            Aufbau und Organisation des Lagers

2.3            Verbrecherische Lagerleitung

2.4            Der Alltag im Lager

2.5            Flucht und Hilfegesuche

2.6            Die Befreiung

  1. Die zweite Geschichte des Lagers Rees

3.1            Die frühen Jahre nach dem Krieg

3.2            Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen

3.3            Frühe Kontaktaufnahmen

3.4            Verschwiegen und verdrängt

3.5            Der Bericht „Kriegsende in Rees“

3.6            De hel van Rees

3.7            Erinnerung wird aufrechterhalten

3.8            Die Entwicklung seit den 1980er Jahren im Kontext der deutschen Erinnerungsgeschichte

3.9           Die Entwicklung in der Niederlanden

  1. Resümee
  2.  Bibliographie

Anhang

 

1. Einleitung.

Im Vorwort ihres Beitrags zu einem landesweiten Wettbewerb mit dem Thema „Nationalsozialismus im Alltag“ schrieben vier Reeser Gymnasiasten, dass sie mit den Geschehnissen um die Zwangsarbeiterlager in Rees eine Materie behandeln wollen, die ihnen bis dato gar nicht und der Reeser Bevölkerung nur fragmentarisch bekannt war. Das war 1983 – seitdem ist in Rees viel geschehen. Dennoch könnten heute ähnliche Worte auch vor dieser Arbeit stehen und man müsste sie anstelle von Rees nicht einmal auf ganz Deutschland, nicht auf das Land Nordrhein-Westfalen beziehen: Selbst in der weiteren Umgebung der Stadt Rees ist die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers kaum bekannt. Der Titel eines von Peter Reichel herausgegebenen Sammelbands zur Überwindung, Deutung und Erinnerung des Nationalsozialismus lautet „Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte“. Hauptgegenstand der in dieser Arbeit getätigten Untersuchung ist die „zweite Geschichte“ des Zwangsarbeiterlagers in Rees und seiner Außenstellen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der deutschen Seite der Geschichte. Die Mechanismen der Verdrängung, Phasen in der Erinnerungsgeschichte und verschiedene Etappen der Aufarbeitung sollen aufgezeigt, untersucht und bei gegebener Möglichkeit im größeren Kontext der Geschichte der deutschen Erinnerungskultur betrachtet werden. Die Suche nach den Gründen für die niedrige Bekanntheit nimmt eine wichtige Stellung ein.  Doch wie kann über die „zweite Geschichte“ berichtet werden, wenn die „erste Geschichte“ des Lagers im deutschsprachigen Raum noch kaum bekannt ist? Es versteht sich daher, dass dem Hauptteil der Arbeit eine Darstellung der Ereignisse in der Kriegszeit vorangehen muss. Im Rahmen dieser Arbeit kann dabei gewiss nur ein Teil der Aspekte betrachtet werden, über die eigentlich berichtet werden müsste. So beschränkt sich die Untersuchung im Wesentlichen auf das Schicksal der niederländischen Zwangsarbeiter. Deshalb sei bereits an dieser Stelle auf die beiden herausragenden niederländischen Publikationen „De Sinderklaas razzia van 1944“ von Dick Verkijk und „De verzwegen deportatie“ von Arend J. Disberg, die die Geschichte des Lagers sehr ausführlich beschreiben, verwiesen. Letztere enthält 105 durch den Autor in mühevoller Arbeit zusammengetragene Ego-Dokumente, die größtenteils mit der Methode der Oral History entstanden sind und so dem Werk Quellencharakter verleihen.

Die Hauptquellen für den ersten Teil der Arbeit sind die Augenzeugenberichte „Waar bleven onze mannen?“ und „De hel van Rees“. Der erstgenannte Bericht wurde 1947 von Hermanus M. Krimp geschrieben. Krimp hatte in der Zeit, in der das Lager bestand, mehrere Fahrten dorthin unternommen, bei denen er Niederländern zur Flucht verhalf. Bereits 1946 verfasste Jan Krist seine Schilderung der Razzien und der Zeit im Lager.  Krists Darstellung ist nicht unproblematisch, da er als Angehöriger der Feuerwehr im Lager eine Sonderstellung einnahm, was an späterer Stelle noch erläutert wird. 1989 erschien „De hel van Rees“ noch einmal in überarbeiteter Version, in der auch auf aktuelle Entwicklungen hingewiesen wurde. Demzufolge stellt das Buch auch eine der zahlreichen Quellen für die Nachgeschichte des Lagers dar. Ein ausdrückliches Anliegen dieser Arbeit ist, dass sie – trotz des nüchternen, wissenschaftlichen Blickes auf die Thematik – den Geschehnissen nicht teilnahmslos gegenüberstehen soll. Gewährleisten soll dies vor allem der vermehrte Gebrauch von wörtlichen Zitaten aus Zeitzeugenberichten und Interviews.

2. Das Lager Rees.

2.1 Die Razzien.

In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden seitens des NS-Regimes zahlreiche Maßnahmen beschlossen, die den Vormarsch der alliierten Kampfverbände stoppen sollten. Dazu gehörte auch die Errichtung von Verteidungsstellungen, vor allem Panzer- und Schützengräben, im niederrheinischen Grenzgebiet. Schon seit 1940 wurden niederländische Zwangsarbeiter für verschiedene Tätigkeiten durch die deutsche Besatzungsmacht ausgebeutet. Auch für die Schanzarbeiten in der weiteren Umgebung der Stadt Rees sollten Niederländer herangezogen werden. Dazu wurden in mehreren Städten im Land gewaltsame Razzien durchgeführt. Das brutale Vorgehen soll im Folgenden am Beispiel der Razzien in der Stadt Apeldoorn erklärt werden.

Bereits am 2. Oktober 1944 wurden bei einer Razzia Männer im Alter zwischen 16 und 55 Jahren auf dem Marktplatz versammelt, um Verteidigungsanlagen in der Nähe der niederländischen Orte Doesburg und Zevenaar im Grenzland zu bauen. Die Stadt wurde von Wehrmachtstruppen und Mitgliedern der Ordnungspolizei umzingelt und die Menschen Haus für Haus aus ihren Wohnungen getrieben. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Männer Berufe hatten, die für die Versorgung der Stadt notwendig waren. Um jede Gegenwehr im Keim zu ersticken, wurden die Leichen von acht hingerichteten Widerstandskämpfern auf den Straßen ausgestellt. Insgesamt wurden bei dieser Aktion etwa 4.000 Zwangsarbeiter abgeführt. Auch wenn die meisten der Arbeiter nach wenigen Wochen wieder zurückkamen, war das städtische Leben in dieser Zeit durch das Fehlen wichtiger Berufestark beeinträchtigt.

Am 1. November rief der Bürgermeister die Einwohner auf, sich zu einer weiteren Maßnahme zu melden, bei der man morgens um 7:30 Uhr mit dem Auto zur Arbeit hin und noch am selben Tag um 18:00 Uhr wieder zurückgebracht würde. Nach den bisherigen Geschehnissen schenkte die Bevölkerung dem Aufruf keinen Glauben – das Ergebnis war für die NSB nicht zufriedenstellend. Die große Razzia, die daraufhin am 2. Dezember durchgeführt wurde, verlief gewaltsam. Am Vortag waren bereits Flugblätter verteilt worden mit dem Befehl, sich für den Abtransport zum Arbeitseinsatz am nächsten Tag bereitzuhalten. Die Männer wurden in den Morgenstunden durch Wehrmachtssoldaten von der Straße und aus den Wohnungen geholt. Der Deportation konnte man nur mit Hilfe eines Freistellungsschreibens entkommen. Die meisten Männer waren nicht gut auf die Belastungen, die sie in Rees erwarteten, vorbereitet. So hatten wohl die meisten nur die Kleidung dabei, die sie direkt am Körper trugen.  Ein Zeitzeuge berichtet folgendes: „Je verwacht toch niet dat dat gaat gebeuren.

[…] Wat is Oorlog? Oorlog is vechten tussen twee groepen soldaten. […] Maar de burgers blijven er buiten.“ Unter schärfster Bewachung wurden die Männer auf dem Markplatz zusammengetrieben und zum Bahnhof geführt. Von dort wurden sie mit Zügen nach Deutschland gebracht.  Auf dem Weg wurde der erste Zug in Werth bei der Stadt Bocholt von englischen Jagdbombern unter Beschuss genommen, weil der Zug mit einem Militärtransport verwechselt wurde – ein tragisches Missverständnis, das mindestens 20 Niederländer das Leben kostete und viele verletzte. Einige Einwohner von Werth halfen den Verletzten unter eigener Gefahr. Die Züge fuhren zu den Orten Elten und Zevenaar, wo die Zwangsarbeiter je nach Alter in zwei Gruppen getrennt wurden. Die Älteren sollten an Verteidigungsanlagen vor Ort arbeiten, während die Jüngeren am nächsten Tag zu Fuß in das Lager Rees gebracht wurden. Manche Väter und Söhne nahmen dort für immer voneinander Abschied.  Derartige Razzien wurden ab November 1944 in mehreren niederländischen Städten durchgeführt. Abweichend von der Ankündigung wurden dabei auch Jungen und Männer, die die Altersspanne unter- bzw. überschritten, mitgenommen. Nicht nur wurden diese Männer selbst ihrer Freiheit beraubt, auch wurde den Familien in den meisten Fällen der Haupternährer genommen.

 

2.2 Aufbau und Organisation des Lagers.

Das Hauptlager befand sich in einer alten Ziegelei nahe des Dorfs Groin in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Rees und wurde von der einheimischen Bevölkerung als „Lager Groin“ bezeichnet. Die Ziegelei, die einer Familie namens Boers gehörte, wurde zum Ende des Jahres 1944 als Lager für die Zwangsarbeiter bestimmt. Am 18. Dezember erhielt es den offiziellen Namen „Ausländerlager Groin, Bauabschnitt Rörig, Einheit Heinze“.Die formale Adresse des Lagers war Groin 15-3. Durch Jan Krists Zeichnungen und Beschreibungen kann der Aufbau des Lagers sehr genau nachvollzogen werden. Der mit der Hauptstraße durch einen Feldweg verbundene Gebäudekomplex war L-förmig angeordnet. Die Planung sah vor, dass die Zwangsarbeiter in einem riesigen Zelt auf dem Gelände schlafen sollten. Es stellte sich aber als unmöglich heraus, alle Zwangsarbeiter darin unterzubringen. Die Ziegelei war durch ihre Bauweise eindeutig nicht dafür geeignet, Menschen zu beherbergen: Im damaligen Produktionsprozess von Dachziegeln wurden die Ziegeln zunächst gebacken und danach auf einem Holzgestell unter einem Dach getrocknet. Die Dächer standen auf Pfählen ohne Seitenwände, um für den Trocknungsprozess möglichst viel Wind durchzulassen. Insgesamt gab es auf dem Gelände drei dieser Trocknungsschuppen. In diesen offenen Konstruktionen wurden die Zwangsarbeiter untergebracht. Der einzige wirklich geschlossene Gebäudeteil enthielt die Öfen und den Kochkessel. Notdürftig versuchte man die Winterkälte durch Strohmatten anstelle der fehlenden Seitenwände einzudämmen, doch durch undichte Stellen in den Wänden und Dächern drangen immer wieder Regen und Schnee ein. Die Zwangsarbeiter schliefen auf engstem Raum auf Stroh – wer Glück hatte besaß eine Decke. Im Lager herrschte bittere Kälte.

Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren unzureichend: Elektrisches Licht und fließendes Wasser gab es nicht. Zeitweise gab es nur eine funktionierende Pumpe, an der man stark verunreinigtes Wasser holen konnte. In der Anfangszeit gab es auf dem gesamten Gelände keine Toilette. Eine Folge dessen war, dass jeder seine Notdurft dort verrichtete, wo es ihm gerade passte. Erst später wurden primitive Latrinen errichtet. Hinreichende sanitäre Anlagen waren also nicht vorhanden, sodass sich die Gefangenen nicht ausreichend waschen konnten. In diesem Klima verbreiteten sich Krankheiten rasend schnell. Aus den persönlichen Zeitzeugenerzählungen geht hervor, dass besonders viele Zwangsarbeiter an der Ruhr und Läusen litten. An der äußeren Ecke des Gebäudekomplexes wurde durch drei der Zwangsarbeiter ein kleiner Krankensaal eingerichtet. Daneben gab es auf dem Gelände noch Büros, Dienstwohnungen und eine Austeilungsstelle für Brot. Die Wege im Lager bestanden aus festgetretenem Lehmboden.

Das Lager Rees existierte nur in dem Zeitraum von November 1944 bis März 1945. In diesem kurzen Zeitraum waren insgesamt um die 5000 Zwangsarbeiter verschiedener Nationen im Lager untergebracht. Eine andere Schätzung spricht sogar von 5500 Menschen. Mehr als die Hälfte der Häftlinge waren Niederländer aus verschiedenen Großstädten. Dazu kamen Gefangene aus Russland, Italien, Frankreich, Polen und anderen besetzten Gebieten. Disberg und Verkijk kommen in ihren gewissenhaften Schätzungen zu dem Fazit, dass mindestens ein Zehntel der Zwangsarbeiter das Lager nicht überlebt haben. Zeitweise wurden noch neben dem Hauptlager Groin in nahegelegenen Orten verschiedene Außenstellen betrieben. So wurde im Januar 1945 nach einer Razzia in Den Haag eine Außenstelle in Bienen in zwei Veranstaltungssälen eingerichtet. Die Anzahl der in dem viel zu kleinen Saal untergebrachten Zwangsarbeiter wird auf über 500 geschätzt.Zwischen dem 28. Januar und dem 12. Februar 1945 gab es für kurze Zeit noch eine weitere Außenstelle in einer Gaststätte in Millingen mit etwa 300 Zwangsarbeitern. Zudem waren für kurze Zeit Zwangsarbeiter in Praest und in Empel, wobei die Stelle in Empel als Notkrankenhaus diente.

 

2.3 Verbrecherische Lagerleitung.

Die Personen, die im Lager leitende Positionen innehatten, sind dafür verantwortlich, dass das Lager Rees den Zwangsarbeitern zur „Hölle von Rees“ wurde. In den Erinnerungen der niederländischen Zwangsarbeiter, die in „De verzwegen deportatie“ zu lesen sind, wird deutlich, dass im Lager Sadisten der schlimmsten Art Angst und Schrecken verbreitet haben. Auch Jan Krist charakterisiert die Protagonisten des Leids in „De hel van Rees“. Später wurden einige von ihnen, darunter die drei Haupttäter Röhrig, Heinze und Brunner, zu langen Haftstrafen verurteilt.   Die Organisation der Zwangsarbeit unterlag dem Bauabschnittsleiter Peter Röhrig. Röhrig, der eine hünenhafte Statur besaß, hatte großen Einfluss auf die Geschehnisse im Lager. Er wird in den Quellen als Verkörperung der Brutalität und Unmenschlichkeit beschrieben. Neben ihm stand der Lagerkommandant Arnold Heinze, der für die Leitung und Verwaltung des Lagers verantwortlich war. Unter dem grausamen Regime der beiden Männer waren drakonische Bestrafungen aus den willkürlichsten Gründen an der Tagesordnung. Das waren Prügelstrafen, die zumeist durch das Bewachungspersonal des Lagers ausgeführt wurden, gelegentlich aber auch durch Röhrig und Heinze selbst. Häufig wurden auch Zwangsarbeiter zusätzlich durch das Einbehalten der ohnehin schon viel zu knappen Essensrationen bestraft.Die Männer des Bewachungspersonals waren größtenteils ortsfremd und rekrutierten sich aus verschiedenen Abteilungen der Partei, vor allem der SA. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie als gewalttätige Unmenschen beschrieben. Erst später wurden auch Einheimische mit der Beaufsichtigung betraut, von denen einige ein gutes Verhältnis zu den Zwangsarbeitern pflegten. Auch im Nebenlager in Bienen mussten die Zwangsarbeiter schlimme Gräueltaten über sich ergehen lassen. Der dortige Lagerleiter Schwertmann führte ein ähnliches Schreckensregime wie im Hauptlager Groin.

Die furchtbaren Prügelstrafen wurden zum Teil vor den Augen der anderen Häftlinge, zum Teil aber auch in einem eigens dafür eingerichteten Raum vollstreckt. Dort wurden die Opfer auf eine umgedrehte Kipplore gelegt und mit abgebrochenen Schaufelstielen oder anderen Knüppeln zusammengeschlagen. Dass Zwangsarbeiter bei den Peinigungen oder an den Folgen starben, passierte nicht selten. Die Zeitzeugen berichten, dass sich das Verprügeln der Lagerinsassen zu einem sadistischen Sport für die Wachleute und Lagerleitung entwickelte. Die Perversion, die aus mancher  Schilderung spricht, überschreitet die Grenzen jeglichen Verstellungsvermögens.  Über den bereits genannten Röhrig und Heinze standen der Kreisleiter Julius Kentrat und der Ortskommandant von Rees, dessen Name Heikamp war. Sie kamen viel seltener in das Lager, zeigten sich bei ihren Besuchen aber ebenso unmenschlich wie Röhrig und Heinze. Nicht zuletzt duldeten sie die schlechten Lebensverhältnisse im Lager und förderten die Gewaltexzesse der Wachmannschaft.

Die miserable medizinische Versorgung war ein großes Problem, erschwerend hinzu kam, dass der für das Lager zuständige Hauptabschnittsarzt Dr. Hans Brunner in die Reihe der Ärzte gehört, die in der Zeit der NS-Diktatur als Erfüllungsgehilfen des Regimes gegen den hippokratischen Eid handelten. Brunner war für den Tod zahlreicher Zwangsarbeiter verantwortlich, da er die Männer, egal wie geschwächt und krank sie auch waren, stets als arbeitsfähig beurteilte.  Die Lagerführung war in hohem Maße für die schlechte Lage der Zwangsarbeiter verantwortlich. Verkijk hält dazu fest, dass in keinem der Lager, die in den Verantwortungsbereich Kentrats fielen, solch schlimme Zustände herrschten wie unter Röhrigs und Heinzes Führung. Der unmenschliche Zynismus der Lagerleitung wird unter anderem durch das folgende Beispiel deutlich: Als Jan Krist Verbandszeug und Medikamente für die Zwangsarbeiter beschaffen wollte, konnte er die Lagerleitung nur mit dem Argument überzeugen, dass dadurch die Arbeiter wieder schneller arbeitsfähig sein würden. In den Charakterisierungen der Augenzeugen werden die Deutschen im Lager erstaunlich differenziert und objektiv geschildert. Dadurch fällt die rein negative Beschreibung verschiedener Figuren umso stärker ins Gewicht.

 

2.4 Der Alltag im Lager.

Bei der Ankunft im Lager wurden die Zwangsarbeiter in der Regel in Gruppen von jeweils 50 Personen eingeteilt. Jeweils einem Angehörigen der niederländischen Polizisten und Feuerwehrmänner, sogenannte Gruppenführer, wurde eine Gruppe unterstellt. In der Gruppe wurde dann noch ein Untergruppenführer bestimmt. Die Gruppenführer waren einem deutschen Hundertschaftsführer untergeordnet und waren an den Schanzarbeiten in der Regel nicht beteiligt. Außerdem schliefen und aßen die Angehörigen der Polizei und Feuerwehr nicht mit den übrigen Zwangsarbeitern. Der Tagesablauf der Zwangsarbeiter war von der Arbeit bestimmt. Die offizielle Einteilung des Tages war folgendermaßen geregelt:

„06:15 uur:

Reveille.

07:15 uur:

Aantreden voor het appel.

07:30 uur:

Appel.

07:45 uur:

Afmars naar het werk. Elke ploeg ging onder leiding van haar Duitse Hundertschaftführers naar haar vaste werkobject.

08:00 uur:

Begin van de arbeid.

12:00-13:00 uur:

Schaft en koffiedrinken op het werk.

               13:00-16:00 uur:        Werken.

               16:00 uur:                  Afmars naar het kamp.

               18:30 uur:                   Brood en warm eten halen.“

Die Weckzeiten verschoben sich je nach der Laune des Wachpersonals. Wollten diese länger schlafen, weckten sie auch später. Zum Appell mussten die Lagerinsassen dennoch rechtzeitig antreten.  Der Großteil der Zwangsarbeiter musste in der Umgebung von Rees Schanzarbeiten ausführen. Die schwere körperliche Arbeit in den Gräben machte vielen Zwangsarbeitern, die zu großen Teilen aus der städtischen Bevölkerung stammten, schwer zu schaffen. Gerade diejenigen, die eigentlich künstlerischen oder intellektuellen Berufen nachgingen, waren nicht an diese Art von Arbeit gewöhnt. Die Einhaltung der angekündigten Mittagspause erfolgte so gut wie nie. Gearbeitet wurde an jedem Tag der Woche. Auch bei heftigen Regenfällen mussten die Zwangsarbeiter die Arbeit verrichten bis sie komplett durchnässt waren. Erst dann durften sie sich unterstellen. Selbst bei gefrorenem Boden mussten die Arbeiter mit Spitzhacken Stück für Stück die Erde abtragen. Angetrieben von der Angst vor den Stockschlägen mussten die Zwangsarbeiter bis zur Erschöpfung schaufeln. Verschiedenen Zeitzeugen zufolge wurden auch zumindest Warnschüsse in Richtung von Arbeitern abgegeben, falls sie sich den Anweisungen des Wachpersonals widersetzten.  Auch von verschiedenen Reeser Betrieben wurden Zwangsarbeiter als kostenlose Arbeitskräfte angefordert. Dort hatten es die Menschen in der Regel besser als in den Gräben.  Sowohl im Lager, vor allem aber auch am Arbeitsplatz ging große Gefahr von dem alliierten Beschuss aus.

Das Essen im Lager bestand in der Regel aus einer kleinen Portion Brot und einem Dreiviertelliter Kartoffel- oder Kohlsuppe. Diese bestand tatsächlich nur aus Wasser und vereinzelten Blättern Kohl. Durch den großen Hunger kam es häufig zu Diebstählen unter den Lagerinsassen. Um dem vorzubeugen, aßen viele ihre Brotration vor der Nacht auf, sodass sie morgens mit leerem Magen zur Arbeit gingen. Kamen neue Zwangsarbeiter ins Lager, musste das Brot geteilt und die Suppe gestreckt werden.35 Schon nach kurzer Zeit sorgte die nährstoffarme Kost für Mangelerscheinungen unter den Zwangsarbeitern.

Eine medizinische Versorgung der Gefangenen war nicht geplant und entstand nur auf eigene Initiative der Zwangsarbeiter. Dass der anwesende Arzt Dr. Brunner nicht zum Wohle der Menschen handelte, wurde bereits berichtet. Dazu kam, dass es an Verbandszeug und Medikamenten mangelte. Beispielsweise gab es zu Beginn nur eine Rolle Leukoplast für das gesamte Lager. Zwischenzeitlich wurden Verletzte im Krankenhaus in Rees und später in dem bereits erwähnten Notkrankenhaus in Empel behandelt.  Wie bereits berichtet hatten die meisten Lagerinsassen zudem keine Kleidung dabei, außer der, die sie bereits am Körper trugen. Auch geeignetes Schuhwerk fehlte den meisten. Durch die harte Arbeit, den Durchfall und die Läuseplage war die Kleidung bereits nach kurzer Zeit verunreinigt und abgetragen. Infolgedessen verschlechterte sich die hygienische Situation noch mehr. Einige Zwangsarbeiter konnten sich nachts nur mit ihrer Jacke gegen die Kälte schützen – in diesem Winter wurden in der Nacht teilweise Temperaturen von unter -20°C und Schneefallhöhen von 30 cm erreicht. Die Polizisten und Feuerwehrmänner hatten das Glück einen Ofen nutzen zu können.  Dass die Sicherheitsvorkehrungen im Lager nebensächlich waren, zeigt sich an dem Beispiel des großen Brandes, der am 2. Februar 1945 auf einen Schlag 36 Menschen tötete. Eine von den Zwangsarbeitern aufgestellte Kerze war umgefallen und hatte in kürzester Zeit das Stroh entzündet. In großer Panik versuchten die Zwangsarbeiter aus dem brennenden Trockenschuppen zu fliehen. Wegen eines blockierten Notausganges war nur ein Fluchtweg vorhanden. Vor allem die Männer, die an dem Tag eine Prügelstrafe erlitten hatten oder krank waren, schafften es nicht, dem Brand zu entkommen.

Die Lagerinsassen befanden sich in einem Teufelskreis aus harter körperlicher Arbeit, Hunger, Kälte, schlechten hygienischen Bedingungen und mangelnder medizinischer Versorgung. In kürzester Zeit waren aus gesunden Männern leere Hüllen geworden. H. M. Krimo schilderte die Eindrücke von einem Besuch im Lager so: „Doch toen de groep arriveerde, sloeg ons de schrik om het hart: Was dat ‚Hollands Glorie‘! Onze mannentrots! Deze stumperds, deze wrakken. Hoe hadden de Duitsers het klaar gespeeld, om in zo een korte spanne tijds er zulke wezens van te maken? […] Velen waren min of meer apathisch.[sic]“ Die physischen und psychischen Misshandlungen durch das Personal verschlimmerten die Situation. Jeden Tag starben mehrere Männer. Nach dem Willen des Lagerkommandanten Heinze sollten die Verstorbenen einfach in ein Massengrab auf dem Gelände geworfen werden. Er verbot den Geistlichen der Stadt Rees die kirchliche Bestattung der Leichen. Die Pastöre und Pfarrer handelten ihrer Überzeugung gemäß gegen den Willen Heinzes und versuchten dennoch, den Verstorbenen eine ihrer Konfession angemessene Bestattung zu gewähren. Dadurch nahmen sie auch ein persönliches Risiko auf sich.  Im Lager Rees sind auf vielfältige Arten und Weisen Kriegsverbrechen begangen worden. Die schlechten Lebensverhältnisse und die unmenschliche Behandlung durch das Wachpersonal sorgten dafür, dass das Lager Rees eine absolute Sonderrolle unter den Zwangsarbeiterlagern für zivile westliche Arbeitskräfte einnahm. Offiziell war das Lager zwar ein Arbeitslager, es trug wegen der vielfältigen Gräueltaten jedoch deutliche Züge eines Konzentrationslagers.

 

2.5 Flucht und Hilfe.

Den Kriegsverbrechern und ihren Erfüllungsgehilfen auf der einen Seite standen auf der anderen Seite Menschen gegenüber, die den Zwangsarbeitern auf verschiedene Weise halfen und dabei die höchsten Risiken für sich selbst in Kauf nahmen. Diese Menschen waren in Widerstandsgruppen organisiert, traten aber auch als Einzelpersonen auf. Neben den niederländischen Helfern gab es auch einige Deutsche, die den Zwangsarbeitern zu helfen versuchten.

In den niederländischen grenznahen Dörfern Gendringen und Megchelen blieb das Unrecht im Lager Rees nicht unbemerkt, denn schon Mitte Dezember trafen dort die ersten Menschen ein, die eigenmächtig aus dem Lager entkommen konnten. Um die Brüder Theo und Jan Venhorst bildete sich infolgedessen eine Widerstandsgruppe, die in verschiedenen, teilweise spektakulären Aktionen Zwangsarbeiter aus dem Lager schleuste. Unter anderem mischte sich die Gruppe unter die Zwangsarbeiter und drang so in das Lager ein, um einen Fluchtplan mit den Häftlingen zu besprechen. In Megchelen wurde durch zahlreiche Helfer unter der Leitung der Lehrerin Mies Neuhaus in einer Schule heimlich ein Notkrankenhaus eingerichtet, in dem dauerhaft durchschnittlich zwischen 130 und 150 ehemalige Zwangsarbeiter lagen, die man unter höchsten Anstrengungen versuchte gesund zu pflegen. Auch in Gendringen wurde in einer Schule ein Notkrankenhaus eröffnet.

Ein anderes Beispiel ist die Widerstandsgruppe um den Haarlemer Hermanus M. Krimp, die bei verschiedenen Fahrten nach Rees immer Hilfspakete, Medikamente und Verbandszeug zum Lager brachte und mit Hilfe von teilweise gefälschten Papieren Niederländer zurück in ihre Heimat brachte. Über die Gruppe Krimp wird auch später noch einmal berichtet. Der deutsche Industrielle Eugen Hollaender war Besitzer der Amefa-Fabrik für Klingen in Apeldoorn. Er unternahm selbstständig und auf eigene Kosten Botengänge nach Deutschland, um dort die ihm mitgegebenen Pakete zum Lager zu schicken. Durch die niederländische Stiftung der Zwangsarbeiter Apeldoorns wird er heute mit Oskar Schindler verglichen. So konnte er mehrere Menschen aus Rees befreien, indem er vorgab, dass diese in der Produktion von Rasierklingen für den Heeresbedarf unverzichtbar seien.

Auch Deutsche aus der Gegend um Rees waren vereinzelt in enger Zusammenarbeit mit Niederländern aus den grenznahen Dörfern an Fluchtaktionen beteiligt. So berichtet der damals Jugendliche Josef Becker: „Noch am gleichen Samstagabend, nachdem alles noch einmal durchgesprochen war, machte ich mich mit Arie auf den Weg über Hueth nach Millingen. Mit dem Fahrrad fuhr ich jeweils ein Stück voraus um Arie so die richtige Orientierung zu geben, ließ mich wieder zurückfallen, überholte ihn erneut und fiel wieder zurück. Dadurch fand Arie den richtigen Weg und ich hätte flüchten können, wenn Gefahr aufgetaucht wäre. […] Arie sollte im Falle einer Kontrolle sagen, er habe sich verlaufen.“

Eine andere Form der Hilfe und der Menschlichkeit war es, dass die Bevölkerung der Stadt Rees und der umliegenden Dörfer Lebensmittel für die Zwangsarbeiter an den Weg stellte. Das war für beide Parteien mit großen Risiken verbunden: Dem Zwangsarbeiter drohte die Körperstrafe durch die Wachleute, den Deutschen wurde zum Teil ein hohes Bußgeld auferlegt. Andere mussten beim gefürchteten Ortsgruppenleiter Moser in Rees vorsprechen. Es muss als Glücksfall für die niederländischen Zwangsarbeiter beurteilt werden, dass Teile der einheimischen Bevölkerung allein schon wegen der geographischen Nähe schon vor der NS-Zeit eng mit den Niederlanden verbunden waren. Da die meisten Einwohner der Region in niederfränkischem Dialekt sprachen, der dem Niederländischen sehr ähnlich ist, konnten sich Deutsche und Niederländer verständigen. Auch der in Rees tätige Pfarrer sensibilisierte die Bevölkerung für das Schicksal der Zwangsarbeiter Immer wieder versuchten auch Zwangsarbeiter heimlich das Lager zu verlassen und bei den benachbarten Häusern und Bauernhöfen um Lebensmittel für sich und ihre Mithäftlinge zu erbetteln. Diese Tätigkeit war ebenfalls mit hohen Gefahren verbunden. In kaum einem niederländischen Zeitzeugenbericht wird diese Art der Hilfe der einheimischen Bevölkerung bestritten, ja sogar oftmals gesondert dankend erwähnt, sodass gefolgert werden kann, dass sie in hohem Maße vorkam. Es handelt sich dabei also eindeutig nicht um einen zweifelhaften Versuch der nachträglichen Ehrwiederherstellung seitens der einheimischen Bevölkerung. Die hier getätigte Aufzählung ist natürlich nur eine kleine Auswahl an gedenkenswerten  Taten und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch konnten bestimmte Aspekte der Fluchthilfe, wie etwa das Notkrankenhaus in Megchelen, oder die Feststellung, dass die Zahl der Zwangsarbeiter beim Morgenappell nach großen nächtlichen Fluchtaktionen stark gesunken war, bei den Deutschen oder der NSB nicht unbemerkt bleiben. Das verworrene Geflecht der letzten Kriegsmonate, in dem aus verschiedensten Motiven – sei es aus der Resignation angesichts des untergehenden Reiches heraus oder sei es, um den eigenen Kopf durch eine letzte gute Tat aus der Schlinge zu ziehen – gelegentlich auch überzeugte nationalsozialistische Entscheidungsträger den Dingen ihren Lauf ließen, begünstigte es, dass die Unternehmungen der Helfer dauerhaft durchgeführt werden konnten. Das große administrative Chaos rund um das Zwangsarbeiterlager Rees trug dazu seinen Teil bei.

 

2.6 Die Befreiung

Das Lager Rees wurde an den Tagen des 24. und 25. März 1945 durch britische Truppen befreit. Zuvor wurde der Bereich, in dem sich das Lager befand, unter starken Artilleriebeschuss genommen und bombardiert. Dadurch wurden die ohnehin schon gewissenlosen deutschen Bewacher zunehmend unberechenbar. Die Situation wurde für die Lagerinsassen so kurz vor ihrer Rettung noch einmal lebensgefährlich. Häftlinge, Teile des Wachpersonals und der Lagerleitung versteckten sich in den Brennöfen. Die Befreiung des Lagers wird ausführlich im Bericht des im Lager inhaftierten Italieners Secondo Marinaz beschrieben. Die meisten der befreiten Männer wurden nach kurzer Zeit aus einem improvisierten Zeltlager in Rees in die Stadt Kevelaer überführt. Von dort wurden die Niederländer direkt in ihre Heimat gebracht. Die Angehörigen anderer Nationen konnten erst einige Zeit später die Heimreise antreten. Marinaz beispielsweise kam erst über die Zwischenstation Celle im September 1945 zurück nach Triest. Viele Männer kamen schwer krank und traumatisiert nach Hause. Hunderte Ehemänner, Väter und Söhne sind nicht aus Deutschland zurückgekehrt.

 

3. Die zweite Geschichte des Lagers Rees

3.1 Die frühen Jahre nach dem Krieg.

Auf die Befreiung des Zwangsarbeiterlagers folgte nach etwas mehr als einem Monat am 5. Mai 1945 die Befreiung der Niederlande und wenig später das Kriegsende in Europa. Das Land musste neu aufgebaut werden. Für viele der ehemaligen Zwangsarbeiter gab es keine Zeit, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, da sie sofort wieder ihre Familien unterstützen mussten, die in der Abwesenheit des Haupternährers selbst Not gelitten hatten. Es kam auch vor, dass Zwangsarbeiter, die staatlich angestellt gewesen waren, nun besonders in die Pflicht genommen wurden, mit der Begründung, die ehemaligen Zwangsarbeiter seien nun ja abgehärtet. Die Kürze eines frühen niederländischen Zeitungsartikels zeugt davon, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter noch keine große Beachtung in der Berichterstattung fanden.

Krimp merkte in seinem Bericht kritisch an, dass die betroffenen Familien nur sehr wenig oder gar keine Hilfe von Organisationen wie etwa der eingerichteten Volksherstel empfingen. Dass er darüber sehr verärgert war, wird aus den folgenden Zeilen deutlich: „Ten eerste op grond van de omstandigheid, dat voor de mensen uit arbeidskampen geen regelingen waren getroffen en anderzijds, zoals men ons mededeelde, omdat zij geen slachtoffers, afkomstig uit een Concentratiekamp waren. Tegenover de buitengewone hulp, die de repratiërenden uit Indië ontvingen, was dit wel een pijnlijke geschiedenis. […] Doch waar minstens 80% van hen, die naar Rees gevoerd waren, tot de arbeidende stand behoorde, was hulp hier dringend geboden.“

Die hier deutlich werdende Hierarchisierung von Opfern ist psychologisch in hohem Maße problematisch. Die ehemaligen Zwangsarbeiter waren in dieser Hierarchie unter anderen Opfergruppen angesiedelt. Die Kulturanthropologin Aleida Assmann schreibt darüber: „Die Priveligierung des einen Traumas kann zur Abblendung eines anderen Traumas führen, nach dem Motto: Das Schlimmere ist des Schlimmen Feind.“In dieser Frühphase, in der immer wieder neue Gräueltaten des NS-Regimes aufgedeckt wurden, gab es kein großes öffentliches Interesse für die gesellschaftliche Anerkennung des Leids der Zwangsarbeiter. Teilweise wurde die Zwangsarbeit als logischer Begleiteffekt des Krieges wahrgenommen. Selbst heute wird mit dem Begriff „Zwangsarbeiterlager“ eine harmlosere Assoziation als mit dem Begriff „Konzentrationslager“ erzeugt. Dass die Grenzen bezüglich Grausamkeit und Unmenschlichkeit jedoch fließend sind, ist – wie zuvor erörtert – durch das Lager Rees belegt.

Schon in der unmittelbaren Zeit nach der Befreiung des Lagers entstand aus der Widerstandsgruppe um Krimp aus Haarlem das Komitee „Nazorg Kamp Rees“. Es war bei den Familien der Zwangsarbeiter bekannt, dass die Gruppe häufig den Weg zum Lager gemacht hatte, um dort zu helfen. So wurden durch die Hinterbliebenen bald Fragen nach Vermissten und nach Gräbern derjenigen, von denen man wusste, dass sie das Lager nicht überlebt hatten, an das Komitee herangetragen. Die Hauptaufgabe des Komitees bestand zunächst somit darin, nach und nach das Chaos um überlebende, tote und vermisste Lagerinsassen aufzuklären. Zwischen dem Zeitpunkt der Befreiung und der Erstellung des Berichts „Waar bleven onze mannen?“ im August 1947 reiste die Gruppe insgesamt 17mal nach Deutschland. Im Rahmen dieser Reisen sorgten sie auch dafür, dass die teilweise stark verwilderten Gräber aufbereitet wurden. Krimp wusste 1947 von 247 toten Niederländern und 101 vermissten. Angefügt an den Bericht wurden eine Namensliste der Verstorbenen, sowie Bildaufnahmen von den Gräbern vor und nach der Aufbereitung. 1955 wurden die meisten der verstorbenen Niederländer auf einen Ehrenfriedhof in Düsseldorf umgebettet. Kennzeichnend für diese sehr frühe Phase der Aufarbeitung ist, dass diese aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen von den betroffenen Familien selbst vorangetrieben wurde. Die Erinnerung an das Lager selbst blieb in erster Linie im individuellen Gedächtnis der Überlebenden bewahrt.

 

3.2 Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen.

In der Zeit nach der Befreiung des Lagers gab es mehrere Gerüchte, dass viele der Täter den Krieg nicht überlebt hätten. So glaubte Krimp 1947 beispielsweise noch, dass Röhrig bei einem Bombenangriff gestorben sei.Tatsächlich kann nur von Kreisleiter Kentrat mit einiger Gewissheit behauptet werden, dass er bereits im Juni 1945 ums Leben gekommen war. Gesichert ist jedoch, dass beinahe alle Verbrecher aus Rees verhaftet und in die Niederlande ausgeliefert werden konnten,  nachdem G.J. Oorlog, der im Dienste des Roten Kreuz das Lager in der Kriegszeit besucht hatte, eine Anklageschrift verfasst hatte.65 Die niederländische Presse brachte nur sehr wenige, teilweise sehr fehlerhafte Artikel über den Prozess. Inwiefern das dem Papiermangel der Nachkriegszeit oder dem zu dieser Zeit noch niedrigen Bekanntheitsgrad des Lagers geschuldet war, ist nicht mehr zu ermitteln.

Die Bijzondere Rechtspleging war in den Niederlanden kontrovers diskutiert. In seiner Dissertation arbeitet Harald Fühner verschiedene Phasen der Verfolgung von NSVerbrechen in den Niederlanden heraus. Der Prozess gegen die Hauptschuldigen von Rees steht am Ende der „Phase der Bestrafungen (1945-1950)“ und am „Beginn der Phase der Begnadigungen (1948-1962)”. Als Merkmal für die Zeit ab 1947/1948 konstatiert Fühner, dass in den Verhandlungen die schweren Kriegsverbrecher „davon profitierten, dass auch die Richter mit wachsendem Abstand zum Kriegsende mildere Kriterien anlegten. […] Als halbherzig lassen sich die Bemühungen zur Bestrafung deutscher NS-Verbrecher charakterisieren“69. Dick Verkijk, der den Prozess gegen die Hauptverantwortlichen in Rees sehr ausführlich beschreibt, hält zudem fest, dass der sehr gut vorbereitete Staatsanwalt Besier befürchtete, dass die Richter erneut mild urteilen würden. Im Prozess selbst zogen sich die Täter aus der Verantwortung mit der Begründung nach Befehl gehandelt zu haben. Vor allem Röhrig stellte sich immer wieder als Befehlsausführer Kentrats dar.71 Nach der ersten, sehr milden Urteilsverkündung ging die Staatsanwaltschaft in Berufung. In zweiter Instanz wurde am 15. Mai 1950 Heinze zu elf Jahren, Brunner zu 18 Jahren und Röhrig zu 17 Jahren Haft verurteilt. Schließlich wurden am 26. November im Rahmen eines weiteren Prozesses die Mitverantwortlichen Schneider, Schulte und Altmeyer zu Haftstrafen verurteilt. Schon im Laufe der 1950er Jahre wurden die verurteilten Kriegsverbrecher jedoch nach Deutschland zurückgeführt. Das gemessen an den Verbrechen milde anmutende Urteil und die frühe Freilassung konnten für die Opfer keine große Genugtuung sein. Der Prozess ist dennoch als wichtige Etappe in der „zweiten Geschichte“ des Lagers zu beurteilen, da schon zu einem frühen Zeitpunkt ehemalige Zwangsarbeiter nach der Befreiung durch ihre Zeugenrolle zusammengeführt wurden. Auch ist es als Fortschritt in der Aufarbeitungsgeschichte anzusehen, dass es überhaupt zu einem Prozess kam, in dem sich die meisten der Täter für ihre Verbrechen verantworten mussten.

 

3.3 Frühe Kontaktaufnahmen.

Dass es für die deutschen Bürger im totalitären NS-Staat keinen Handlungsspielraum für Humanität gegeben hat und dass Widerstand gegen das Unrechtsregime immer die heldenhafte Tat nach dem Muster des 20. Juli 1944 bedeutete, seien – so Hannes Heer – zwei beliebte Lügen im Deutschland der Nachkriegszeit.  Im Kontext des Zwangsarbeiterlagers Rees wurden diese durch verschiedene Deutsche wie etwa Eugen Hollaender oder die Familien, die „tot de laatste snede brood met onze mannen in het verborgene gedeeld hebben“, entkräftet. Die wenigen Beispiele an Menschlichkeit, die es auf deutscher Seite gab, waren die Gründe dafür, dass es schon früh Kontakte zwischen ehemaligen Zwangsarbeitern und Deutschen gab. Beispielsweise wurde das Komitee „Nazorg Kamp Rees“ schon bei den frühen Fahrten nach Deutschland gebeten, denjenigen Deutschen zu danken, die den Niederländern geholfen hatten. Bereits am 19. August 1950 reiste eine Gruppe von 40 Personen aus Apeldoorn nach Werth und Bocholt, um dort der versehentlichen Zugbeschießung durch die Royal Airforce zu gedenken. Bei diesem Anlass gab es auch Treffen mit Deutschen, die den Verletzten bei diesem Unglück geholfen hatten. Zunächst fand im Notgemeindehaus in Bocholt ein Empfang durch den Oberbürgermeister Kemper und die Stadtverwaltung statt, an den sich eine durch den Oberstadtdirektor geleitete Stadtbesichtigung anschloss. Nach dem Mittagessen fuhr ein Teil der Gruppe nach Rees, um dort verschiedene Orte der Erinnerung aufzusuchen. Auch in Rees wurde man durch den Stadtdirektor empfangen. Abschließend wurde in einem Wirtshaus in Werth Kaffee getrunken und die Unglücksstelle besichtigt.

Der Nieuwe Apeldoornse Courant berichtete in einem ausführlichen Artikel über die Erinnerungsfahrt. Kontrastierend stellte der Autor die Gründe für die Reise der Razzia von 1944 gegenüber: „De eerste reis gedwongen door Nazi’s. De tweede reis ook gedwongen, maar nu door dankbaarheid. Der im weiteren Verlauf auffallend neutral gehaltene Artikel mit der Überschrift „Dank aan Bocholt en Werth – Duitse burgers redden eens het leven van Apeldoorners“ beschreibt sehr genau die Abfolge der einzelnen Stationen des Tages und zitiert versöhnliche Zeilen aus den verschiedenen Ansprachen. Der Empfang sei „op bijzonder hartelijke wijze“ geschehen.

Zwei Jahre darauf plante das Komitee „Nazorg Kamp Rees“ die Enthüllung eines Denkmals zum Gedenken der verstorbenen Zwangsarbeiter auf dem evangelischen Friedhof von Rees. Das Komitee rechnete damit, dass 200 Niederländer dazu anreisen würden, darunter auch zahlreiche Angehörige verstorbener Zwangsarbeiter. Ein erhaltener Briefwechsel zwischen Krimp und dem Reeser Stadtdirektor Nienhaus gibt dem Leser genaue Einblicke in die Vorbereitung dieser Veranstaltung. In einem ersten Brief stellte Krimp den geplanten Tagesablauf mit der Denkmaleinweihung, Mittagessen und Kranzniederlegungen in den Orten der Nebenlager vor. Dazu sollten bestimmte politische Vertreter aus Rees und den umliegenden Dörfern eingeladen werden, die aber auf keinen Fall Mitglieder der NSDAP gewesen sein durften: „Aber diese Personen dürfen damals keine Nazis gewesen sein sonst kommen Sie [sic] nicht in Frage so etwas mitzumachen.“ Auch für das beabsichtigte Mittagessen mussten einige Absprachen getätigt werden: „Wo kann man ein Mittagessen bekommen? Ich habe gehört, dasz der Inhaber des Kaffees, an der Ecke Empelerstrasze auch der Partei angehörte. Sie mussen mich recht verstehen, wir sollen sehr vorsichtig sein, sonst bekommen wir Krach und das brauchen wir nicht. Nur ein Ding steht fest, der Bluthund Moser soll nicht ansitzen, Auch ist es ja möglich dasz mehrere Holländer keinen Wert darauf legen von der deutschen Behörde eine Mahlzeit angeboten zu bekommen .

Der scharfe Ton dieses Auszugs zeugt von den Erfahrungen, die bisher mit den Deutschen gemacht wurden und überrascht nicht angesichts der Verhältnisse im Lager Rees, die Krimp als Augenzeuge ja selbst gesehen hatte. Krimps noch einmal explizit erwähnte Forderung, dass weder ehemalige Nationalsozialisten teilnehmen dürfen, noch ein Lokal zum Mittagessen ausgewählt werden könne, das einem ehemaligen Parteimitglied gehöre, belegt ein grundsätzliches Misstrauen und die Erwartung eines mangelnden Feingefühls der bei der Planung beteiligten Deutschen. Zudem hatte Krimp die Vermutung, dass einige Niederländer eine Mahlzeit von einer deutschen Behörde nicht annehmen würden. Erst als aus dem Antwortschreiben hervorging, dass sich der Reeser Stadtdirektor sehr bemüht zeigte, wurde der Briefwechsel lockerer und sogar freundlich. Die vorliegenden niederländischen Zeitungsberichte bewerteten die Fahrt in keinem Fall negativ. An diesen beiden Beispielen wird jeweils deutlich, dass diese frühen Bemühungen zur Erinnerung eindeutig von niederländischer Initiative ausgingen, während die deutsche Seite keine Eigenmotivation zur Aufarbeitung zeigte. Teilnehmer an diesen Fahrten war jeweils nur ein kleiner Bruchteil der ehemaligen Zwangsarbeiter. Ein möglicher Grund dafür ist, dass sich viele der ehemaligen Zwangsarbeiter noch nicht mit der Zeit im Lager auseinandersetzen konnten oder wollten. Von einer Vernetzung der ehemaligen Zwangsarbeiter kann zudem nicht die Rede sein. Kontakte bestanden – wenn überhaupt – nur in kleinen Gruppen. Festzuhalten ist zudem, dass sich die beteiligten deutschen Kommunen bei der Vorbereitung sehr bestrebt und schuldbewusst zeigten. An den Veranstaltungen nahmen jeweils hohe Würdenträger der Städte teil – man wollte in keinem Fall den Eindruck erwecken, dass das Anliegen der Niederländer nebensächlich sei. Neben den Reisen gab es verschiedene persönliche Kontakte, die sich in der Kriegszeit gebildet hatten und zum Teil noch lange nach dem Krieg gepflegt wurden. Meist waren diese zwischen Niederländern und denjenigen Deutschen entstanden, bei denen sie sich versteckt gehalten oder die ihnen bei der Flucht geholfen hatten. Dabei kam es zu Besuchen und Gegenbesuchen.

 

3.4 Verschwiegen und verdrängt.

Das Lager war in der Zeit nach dem Krieg kein Thema im öffentlichen Leben in Rees, obwohl der Großteil der Bevölkerung davon gewusst hatte. Die dunkle Phase in der Stadtgeschichte wurde nach Möglichkeit verdrängt. Auch wenn Teile der Bevölkerung den Niederländern durch gute Taten zur Seite gestanden hatten, überwog doch die Scham nicht nur zu einem Volk gehörig zu sein, das dieses Leid über andere gebracht hatte, sondern auch ein Lager in der Heimatstadt geduldet zu haben, das für seine grausamen Lebensverhältnisse berüchtigt war. Man wollte sich nicht daran erinnern. Deutliche Worte findet Josef Becker, der bereits als Jugendlicher die Ereignisse um die Außenstelle Bienen mitbekommen hatte: „Über die damaligen Geschehnisse in den Lagern hatte sich weitgehend der Mantel des Schweigens und des Verschweigens gelegt. […] Über die Kriegsereignisse am Niederrhein waren Bücher auf dem Markt und in Zeitungsserien wurde dieses Thema ausführlich behandelt. Die schlimmen Ereignisse in den Zwangsarbeiterlagern fanden bis dahin wenig Beachtung, weder in der Presse noch in anderen Publikationen. So drängte sich mir der Eindruck auf, als sollte […] alles, was manchen Leuten unangenehm sein könnte, totgeschwiegen werden.“ Beckers fundierte Kritik bezieht sich nicht nur auf seine eigene Wahrnehmung, sondern auch auf einen 1978 in Rees erschienenen Bildband, in dem im Rahmen einer Zeittafel an Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, die in Zusammenhang mit der Stadt Rees stehen, erinnert wurde. Das Zwangsarbeiterlager fand dabei keine Erwähnung. In einer anderen Zeittafel zur Stadtgeschichte wurden zwar die Schanzarbeiten im Raum Rees erwähnt, von ausländischen Zwangsarbeitern war jedoch auch hier nicht die Rede. Angesichts der Größe des Lagers und der Zwangsarbeiterkolonnen, die von jedem beobachtet werden konnten, handelt es sich bei den genannten Beispielen mit höchster Wahrscheinlichkeit um bewusste Verschweigungen. Vom Lager wurden keine baulichen Überreste bewahrt.

 

3.5 Der Bericht „Kriegsende in Rees“.

Bezeichnend ist, dass es schließlich vier Abiturienten aus Rees waren, die mit ihrem Beitrag „Kriegsende in Rees“ zu einem landesweiten Wettbewerb erstmals wieder auf das Lager Rees aufmerksam machten. Das Schriftstück umfasst neben Kapiteln über die militärischen Geschehnisse und die Zivilbevölkerung auch einen Teil über „das Schicksal niederländischer Zwangsarbeiter in den Zwangsarbeiterlagern um Rees. […] Ein Verbrechen, von dem heute kaum noch gesprochen wird.“ Das Kapitel über die niederländischen Zwangsarbeiter entspricht der Übersetzung des Berichts „Waar bleven onze mannen?“ von H. M. Krimo Krimp, den die Schüler im Stadtarchiv in Rees gefunden hatten. Im Vorwort zu ihrem Beitrag gingen sie auch auf den mangelhaften Bekanntheitsgrad des Lagers ein:„Bei der Reeser Bevölkerung sind die Geschehnisse in den Reeser Zwangsarbeiterlagern teilweise nur bruchstückartig bekannt. Außerdem hatten wir manchmal den Eindruck, daß man ‚sich nicht erinnern wollte‘. Wir selbst erfuhren zum ersten Mal im Stadtarchiv von Rees von der Existenz der Lager. Unserer Meinung nach handelt es sich bei den Ereignissen um diese Lager jedoch um etwas, das zur Geschichte der Stadt Rees gehört und darum nicht vergessen werden sollte.“ Dass man bis hierhin an der Aufarbeitung derartiger Themen nur wenig interessiert war, zeigt sich auch daran, dass die vier Jugendlichen im Nachwort anprangerten, welche geringe Resonanz sie auf Aufrufe bekamen, die sie in den örtlichen Tageszeitungen veröffentlicht hatten, um Interviewpartner zu finden. Des Weiteren enthält das Nachwort eine eindringliche Mahnung an jeden Einzelnen aus der Vergangenheit zu lernen und es nie wieder zu einer Diktatur in Deutschland kommen zu lassen.

Der Bericht der vier Abiturienten hatte zur unmittelbaren Konsequenz, dass sich in der Stadt ein Arbeitskreis bildete, der sich mit der Errichtung eines gemeinsamen Mahnmals für die niederländischen Zwangsarbeiter und die verfolgten jüdischen Bürger der Stadt befasste. Dem „Arbeitskreis Mahnmal“ gehörten neben den Abiturienten selbst auch die evangelischen Pfarrer Neu und Korrel, die selbst bei zeitgleichen Nachforschungen zum Aufstieg des Nationalsozialismus auf die Geschichte des Lagers gestoßen waren, sowie einige Stadtratsmitglieder an. Das durch Spenden der Bevölkerung mitfinanzierte Mahnmal wurde am Buß- und Bettag 1984, etwa 40 Jahre nach den Razzien, eingeweiht. Auch Niederländer waren an diesem Tag anwesend.  Das Mahnmal besteht aus drei Stelen, auf denen die Worte „Richte unsere Füsse auf den Weg des Friedens“ geschrieben sind. Auf dem Boden liegen seitlich zwei flache Steine mit den Inschriften „Niederländische Zwangsarbeiter litten in Rees 1944-1945“ und „Jüdische Mitbürger wurden in unserer Stadt verfolgt 1933-1945“. Die Bemühungen des Arbeitskreises und die Einweihung des Mahnmals wurden auch von der niederländischen Presse sehr positiv aufgefasst. Der Wettbewerbsbeitrag der vier Schüler setzte ein Ende an die Phase des Verdrängens und Verschweigens und nimmt somit eine Katalysatorfunktion für die Aufarbeitung der Ereignisse ein. Die Bedeutung, die dieser Beitrag in der „zweiten Geschichte“ des Lagers Rees einnimmt, kann darum gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Jahre 1983 und 1984 müssen aus Sicht der Stadt Rees als Wendepunkt in der Erinnerungsgeschichte des Lagers bezeichnet werden.

 

3.6 De hel van Rees.

Schon 1946 hatte Jan Krist die erste Version seines Buchs „De hel van Rees“ herausgegeben. Der Augenzeugenbericht ist eine sehr frühe, sehr ausführliche Quelle über das Lager Rees. Wegen seiner Rolle im Lager wurden Krist und sein Buch von anderen früheren Zwangsarbeitern aber teilweise hart kritisiert: Krist war ein Rotterdamer Feuerwehrmann und gehörte daher einer im Lager privilegierten Gruppe an. Polizisten und Feuerwehrmänner schliefen gesondert, führten statt der Arbeiten in den Gräben Tätigkeiten im und um das Lager aus und aßen nicht mit den anderen Zwangsarbeitern. Ihre Essensrationen waren außerdem weniger knapp. Insgesamt ging es Krist deutlich besser als den meisten anderen Zwangsarbeitern. Zudem nahm Krist unter den Gruppenführern die Rolle einer Kontaktperson zu den Deutschen ein. Unter Anderem war er dafür zuständig, abends die Namen derer auszurufen, die eine Prügelstrafe bekommen sollten. Dick Verkijk schreibt dazu: „Er is geen sprake van dat Krist ook maar enige verantwoordelijkheid droeg voor het toebringen van die straffen, maar hij was op deze manier toch meer een verlengstuk van de kampleiding dan van de gedeporteerden.“ Letzten Endes ging es auch für Krist darum, das Lager zu überleben. Auffällig ist jedoch, dass Krist 1989 eine neue Version des Buches veröffentlichte, in der er eine Reihe merkwürdiger Änderungen seiner Erinnerungen vornahm. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Für die Untersuchung ist von Interesse, dass Krist in seiner Überarbeitung die neue Entwicklung in Rees aufnahm. In dem zugehörigen Kapitel, das mit der kontrastierenden Überschrift „Duitsers toen en nu“ überschrieben ist, berichtete Krist von zwei Fahrten nach Rees, die er in den 1980er Jahren zum Zwecke der Überarbeitung seines Buchs unternommen hatte. 1984 war in den Einladungen zur Mahnmalseinweihung, die zum Dank an die Spender geschickt worden waren, noch bemängelt worden, dass sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit Spenden beteiligt hatte. Inwiefern diese Anmerkungen aber dem Idealismus der Verfasser geschuldet ist, ist schwer nachzuvollziehen. 1989, nur wenige Jahre später, empfand zumindest Krist die Stadtgemeinschaft als sehr an der Vergangenheitsbewältigung interessiert. Das Kapitel schließt mit einem überschwänglichen Lob an die Nachkriegsgeneration in Rees: „Dit boek oordeelt soms hard over de Duitsers van toen. Maar wat een vreugde met deze nieuwe Duitsers samen te werken. Met deze generatie kun je gerust een toekomst bouwen. Nu!“Diese Episode bestätigt die These über die Bedeutung der Ereignisse der Jahre 1983 und 1984. Der Grundstein für eine Versöhnung war gelegt.

 

3.7 Erinnerung wird aufrechterhalten.

Die Enthüllung des Mahnmals war jedoch nur ein Teil der Entwicklung, die durch den Bericht der Jungen, der sich in Rees schnell verbreitet hatte, losgetreten worden war: Verschiedene Personen und Personengruppen setzten sich auch auf deutscher Seite weiterhin dafür ein, dass das Lager Rees nicht in Vergessenheit geriet. Seit 1988 werden am Platz des Mahnmals jedes Jahr am 9. November, dem Tag der Novemberpogrome, Treffen zum Gedenken der verfolgten Juden aus Rees abgehalten. Dabei erscheinen und sprechen sowohl Niederländer als auch Deutsche. Der bereits erwähnte Zeitzeuge Josef Becker kam erst durch den Aufruf in „Kriegsende in Rees“ dazu, seine Erinnerungen über das Zwangsarbeiterlager in Bienen aufzuschreiben und in Eigenausgabe mit Unterstützung durch die Stadt Rees zu veröffentlichen.103 Auch in einem weiteren Buch über sein Heimatdorf findet sich ein Kapitel über die Niederländer in Bienen. Weiterhin wurde durch Beckers Initiative auch in Bienen eine Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter geplant. Zur gleichen Zeit hatte unabhängig davon der an der Befreiung des Dorfes beteiligte kanadische Veteran der „North Nova Scotia Highlanders“ Dave Dickson die Anbringung einer Gedenktafel für die im Kampf um Bienen gefallenen Soldaten angeregt. Die Idee einer gemeinsamen Gedenkstätte für die alliierten Veteranen und die niederländischen Zwangsarbeiter fand in Bienen und Rees Zuspruch, sodass das Denkmal, das zu großem Teil durch ehrenamtliche Arbeit entstanden war, am 19. November 2000 eingeweiht werden konnte.  Außerdem wurde die Geschichte des Lagers nun auch in einigen literarischen Beiträgen erzählt, so etwa in dem Buch „Bilder und Geschichten vom Niederrhein“ oder im „Reeser Geschichtsfreund“, einer jährlich erscheinenden Zeitschrift des Reeser Geschichtsvereins. Auch „De hel van Rees“ erschien 1995 in deutscher Sprache. Des Weiteren wurden im Rahmen des Dokumentarfilmprojekts „Denkmal“ 1999 von einem Regisseur aus Haldern bei Rees etwa drei Stunden Filmmaterial über das Zwangsarbeiterlager zusammengestellt. Davon wurde ein nur etwa sechsminütiger Beitrag in den dritten Programmen gezeigt. Aus diesen Beispielen ist festzuhalten, dass es zwar nur in kleinen Teilen der Bevölkerung ein intrinsisches Bedürfnis zur Aufarbeitung der Vergangenheit gab, die Bereitschaft zur Aufarbeitung aber bei vielen vorhanden war. Mitunter kann aber auch gerade die Entwicklung eines solchen Bedürfnisses als ein wichtiges Nebenziel der Vergangenheitsbewältigung gesehen werden. Ein Beispiel für die Erinnerungskultur der neuesten Zeit ist die grenzüberschreitende Gedenkwanderung, die seit 2010 jährlich im März stattfindet. Im Rahmen der ersten Wanderung wurde an der Stelle des Lagers eine Informationstafel enthüllt. Die Route der Wanderung führt von der Informationstafel nach Megchelen und ist der Fluchtroute nachempfunden, die viele Zwangsarbeiter nutzten, um heimlich in ihr Heimatland zurückzukehren.

Es wird ersichtlich, dass das Interesse an der Geschichte des Lagers Rees nach den 1980er Jahren deutlich gestiegen war. Sämtliche der aufgeführten Projekte haben jedoch einen sehr regionalen Charakter, sodass gefolgert werden muss, dass der Bekanntheitsgrad in Deutschland bis zur Gegenwart nicht über die Grenzen der unmittelbaren Umgebung der Stadt Rees gesteigert werden konnte. Zudem sind wissenschaftliche Annäherungen an das Thema die Ausnahme. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass im Forschungsbeitrag „NS-Unrechtsstätten in Nordrhein-Westfalen“ von Stefan Kraus im Katalog der Zwangsarbeiterlager zwar die Außenstelle in Bienen verzeichnet ist, das Hauptlager in Rees-Groin aber fehlt. Die Angaben wurden unüberprüft aus der schon 1950 erschienenen zweiten Auflage des „Catalouge of Camps and Prisons“ übernommen. Dort ist allerdings ein Lager mit 3.000 Insassen mit dem Ort Heiderich aufgeführt. Die Beschreibung des Lagers trifft aber genau auf das Lager Rees-Groin zu: „Heiderich near Elten […] FLC: ‘Westwalleinsatz Kentrat’, Zelt, 3000 pers., guarded by Police and SA“ In diesem Katalog nimmt die Zahl der 3.000 Insassen eine absolute Ausnahmestellung ein. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es in der Nähe des Lagers Rees-Groin ein weiteres so großes Lager gegeben haben kann, das in den Quellen nirgendwo auftaucht und den Zeitzeugen völlig unbekannt ist. Es muss sich daher um eine Verwechslung handeln, die sich durch den mangelhaften Bekanntheitsgrad des Lagers erklären lassen kann.

 

3.8 Die Entwicklung seit den 1980er Jahren im Kontext der deutschen.

Erinnerungsgeschichte.

Bereits festgestellt wurde, dass das Jahr 1983 den Wendepunkt in der „zweiten Geschichte“ des Lagers einnimmt. Im Mikrokosmos Rees entstand um die Geschehnisse des letzten Kriegswinters eine Erinnerungskultur, während vor dieser Zeit kaum davon gesprochen wurde. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern diese Entwicklung auch in den großen Kontext der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte passt. Der deutschen Bevölkerung wurden die NS-Verbrechen gegen die Juden im Rahmen der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ bereits 1979 in großem Rahmen in Erinnerung gerufen. Zwar wurde die vierteilige Serie wegen ihrer Trivialität teilweise heftig kritisiert, dennoch erreichte sie, vielleicht gerade deswegen, Marktanteile von 3140%. Schon seit den 1960er Jahren hatte es vermehrt anspruchsvollere, auch wissenschaftliche Beiträge zu den NS-Verbrechen gegeben, gleichwohl wird zumeist dieser Populärbeitrag als Zäsur betrachtet: Peter Reichel weist etwa darauf hin, dass erst mit diesem TV-Beitrag ein Massenpublikum bereit wurde, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Knut Hickethier schreibt der Serie eine noch größere Bedeutung zu, „nämlich ein Umschlag im kollektiven Bewusstsein dahin gehend, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit dauerhaft zu erfolgen habe“. Weiterhin konstatiert er eine Tendenz des Verdrängens der NS-Verbrechen vor 1979, die sich in den 1980er Jahren grundlegend geändert habe. Im Zuge des Schmidt-Begin-Konfliktes warfen die Aussagen des israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin neue Diskussionen über die Kollektivschuld des deutschen Volkes auf.  Seit 1982 war zudem mit Helmut Kohl ein Bundeskanzler im Amt, dem vorgeworfen wurde, dass er zu wenig Sensibilität im Umgang mit der NSVergangenheit beweise. Seine im Rahmen eines Staatsbesuch in Israel im Januar 1984 getätigte Aussage von der „Gnade der späten Geburt“, die Bitburg-Affäre 1985 und der Goebbels-Gorbatschow-Vergleich 1986 sind nur einige Beispiele für fragwürdige Handlungen Kohls, die öffentliche Diskussionen um eine von Kohl vermeintlich angestrebte Normalisierung der BRD auslösten. Auch in der Geschichtswissenschaft gab es Diskussionen um neu aufkommende tatsächlich revisionistische Tendenzen und um solche, die fälschlicherweise als revisionistisch bezeichnet wurden. Dies gipfelte unter anderem im Historikerstreit und der damit verbundenen Debatte um eine Historisierung der NS-Zeit.  Die für die Entstehung der Erinnerungskultur in Rees relevanten Jahre fallen genau in diese Zeit. Dass viele Bürger in Rees nun durch den Historikerstreit besonders mitgerissen wurden, mag bezweifelt werden, dennoch waren sie sicher durch die mediale Aufarbeitung in der TV-Serie „Holocaust“ und die Diskussionen um den Bundeskanzler sensibilisiert für die NS-Vergangenheit. Der Beitrag „Kriegsende in Rees“, der zwar deutlich vor dem Historikerstreit entstand, enthält jedoch ein erziehendes Nachwort, das genau dem Zeitgeist der noch folgenden Diskussionen entspricht. Neben der Darstellung des Kriegsendes in ihrer Heimatstadt wechselt der Bericht im Nachwort auf eine Metaebene, in der der Leser als Angehöriger des deutschen Volkes persönlich in die Verantwortung genommen wird. Die energische Ansprache dieser jungen Vertreter der Nachkriegsgeneration ist den in dieser Zeit aufkommenden Rufen nach einem „Schlussstrich“ diametral entgegengesetzt: „Wir möchten auch Fragen aufwerfen und dem Leser stellen. Was lerne ich aus der Vergangenheit? Welche Konsequenzen ziehe ich persönlich aus den Geschehnissen? Nicht nur Fragen beinhaltet unsere Abhandlung, sondern sie enthält gleichzeitig eine Mahnung: Wir dürfen es niemals zu einem zweiten 1933 kommen lassen. Dazu ist jedoch die Wachsamkeit aller Mitglieder der Gesellschaft notwendig.“ Micha Brumlik verortet mit dem Zeitpunkt der Ausstrahlung von „Holocaust“ 1979 den Beginn einer Phase, in der die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen „die Grenzen des Bildungsbürgertums und der politischen Klasse überschritt“ und die Gedenkkultur popularisiert worden sei. Merkmal dieser Phase sei, dass in vielen Ländern und Kommunen Initiativen enstanden, die sich mit dem Gedenken der NSOpfer in ihren Orten beschäftigen. Brumlik schreibt den Schülerwettbewerben dieser Zeit eine hohe Bedeutung für diesen Prozess zu. Die geschilderten Entwicklungen der 1980er Jahre in Rees passen geistesgeschichtlich hier geradezu mustergültig in diese für ganz Deutschland konzipierte Phasenbeschreibung.

Auch in der Folgezeit blieben Themen mit Bezug zur NS-Vergangenheit im öffentlichen Interesse. Relevanz für die ehemaligen Insassen des Zwangsarbeiterlagers Rees besaß dabei vor allem die Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung. Mit der Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ durch Staat und Wirtschaft im August 2000 konnte „1,5 Millionen noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern neben einer Entschuldigung ein auch materielles Zeichen der Anerkennung ihres Leids“ gegeben werden. Für viele der ehemaligen Zwangsarbeiter, die in Rees gelitten hatten, kam das zu spät. Es liegen jedoch Briefe vor, aus denen hervorgeht, dass durchaus im Rahmen dieser Stiftung ehemalige Insassen des Lagers Rees „entschädigt“ wurden.  Andere haben bis heute nie ein Schmerzensgeld für die Zeit im Lager erhalten. Die heutige Zeit verkörpert mit den zahlreichen jährlichen Gedenktreffen und Monumenten die positive Seite des „Memory-Booms“. Als große Errungenschaft der Reeser Nachkriegsgeneration muss es bezeichnet werden, dass ehemalige Zwangsarbeiter nun gerne nach Rees kommen und dort die Gedenkveranstaltungen besuchen. Dennoch muss man der Begriff „Memory-Boom“ für das Beispiel Rees aufgrund der geringen Anzahl an Publikationen und des niedrigen Bekanntheitsgrades des Lagers deutlich relativieren.

 

3.9 Die Entwicklung in den Niederlanden.

Auch in den Niederlanden dauerte es lange bis umfassende Darstellungen der Zeit im Lager Rees entstanden. Ein Grund dafür war, dass viele der ehemaligen Zwangsarbeiter lange Zeit nicht über das Erlebte sprachen. Diese Schwierigkeit wird von zahlreichen Zeitzeugenberichten bestätigt. Der Zeitzeuge Jan de Louter beschreibt, dass er auch die Stadt Rees versuchte aus seiner Erinnerung zu halten: „Ik had een hekel aan Rees. Rees […] bestond voor mij niet meer. […] Er werd thuis nooit over gepraat. Vanaf […] 45 – daar zijn we terug gekomen – tot het jaar 2000 ongeveer, toen is Arend Disberg begonnen om dat boek te schrijven. […] Al die jaren hebben we daar nooit over kunnen praten. […] En daar ben ik niet alleen. […] Als we met vakantie gingen, dan hadden we de caravan en dan ga je de autobahn over […] en dan komt Rees en dan rij je zo naar Oberhausen door. […] En ik heb het nu nog steeds: Als ik dat […] bord zie met Rees, dan was het daar van op het gaspedaal […].“

Eine Ausnahme nimmt hier das unmittelbar nach dem Krieg entstandene „De hel van Rees“ des umstrittenen Jan Krist ein. Schließlich waren es auch in den Niederlanden Angehörige der nächsten Generation, mit Arend Disberg und Dick Verkijk Söhne von ehemaligen Zwangsarbeitern, die erst nach der Jahrtausendwende umfassende Betrachtungen über die Razzien und die Zeit im Lager verfassten. Für einige Zwangsarbeiter war es das erste Mal, dass sie über die Geschehnisse sprachen.Die im Alter einsetzende Bereitschaft, teilweise sogar das Bedürfnis, über das Erlebte zu reden und das Interesse der Nachfolgegeneration an der Verarbeitung der Vergangenheit können somit als Basis für die niederländische Entwicklung der Erinnerungskultur gelten. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden in den Niederlanden zahlreiche Bestrebungen durchgesetzt, die die Erinnerung an die Zwangsarbeiter in Rees aufrechterhalten sollen. Zu diesem Zwecke wurden verschiedene regionale und überregionale Initiativen und Stiftungen errichtet.

Beispiele für die Stiftungsarbeit sind Gedenkveranstaltungen, Lesungen über die Zwangsarbeit und verschiedene Monumente, die nicht nur in den Herkunftsstädten der Zwangsarbeiter, sondern auch im Ort Megchelen, wo viele der aus Rees geflohenen Zwangsarbeiter gesund gepflegt worden waren, gebaut wurden. Dort wurde auch ein Audio-Spot (niederl.: Luistersteen) der Liberation Route Europe enthüllt.  Die Stichting Dwangarbeiders Apeldoorn führt zusätzlich eine aufwändige Website. Sogar verschiedene TV-Dokumentationen wurden erstellt. Ein Beispiel dafür ist die im Stile des Histotainments produzierte Episode der Sendung „Andere tijden“ des Geschichtssenders „Geschiedenis 24“. Dass es all diese Bemühungen überhaupt gibt, zeigt, dass das Interesse der niederländischen Bevölkerung an der Geschichte des Lagers groß ist – dabei ist man sehr um Neutralität bemüht.

Doch trotz der lebendigen Erinnerungskultur und der mühevollen Aufarbeitung gibt es immer noch viele Unklarheiten über die Zeit im Lager und die Folgezeit, die teilweise erst vor wenigen Jahren beseitigt werden konnten. Beispielhaft ist die Odyssee eines Herrn van der Eem aus Heemstede, dessen Onkel im Januar 1945 im Außenlager in Bienen gestorben war. Fälschlicherweise war dieser von den niederländischen Behörden als NSB-Mitglied eingestuft worden und kam deshalb für eine Umbettung auf den Ehrenfriedhof nicht in Frage. In einem vier Jahre andauernden Kampf mit der Bürokratie schaffte es van der Eem erst 2007 seinen Onkel zu rehabilitieren. Derartige Schwierigkeiten sind nicht selten: In Internetforen zum Themenkomplex des Lagers finden sich noch heute zahlreiche Hilfegesuche von Menschen, die nach der ungeklärten Vergangenheit der eigenen Vorfahren forschen. Diese Beispiele zeigen, dass der Aufarbeitungsprozess heute zwar als sehr weit fortgeschritten, aber keinesfalls als abgeschlossen beurteilt werden kann. Vielmehr ist aufgrund der immer weniger werdenden Zeitzeugen und der ohnehin chaotischen Organisation des Lagers davon auszugehen, dass viele Fragen für immer ungeklärt bleiben werden.

 

4. Resümee

Die Geschichte des Lagers Rees ist die Geschichte eines Verbrechens, das im letzten Kriegswinter über 300 Menschen das Leben kostete. Gezwungen zur Arbeit an einer sinnlosen Verteidigungsstellung, litten die Zwangsarbeiter unter der Gewaltherrschaft der NS-Schergen. Kälte, Hunger, Krankheiten und die Folter durch das Wachpersonal ließen Rees in der Erinnerung der Zwangsarbeiter zu einer wahren „Hölle“ werden. Nach der Befreiung des Lagers wurde von der deutschen Seite aus zunächst nichts dafür getan, dass die furchtbaren Geschehnisse nicht in Vergessenheit gerieten – im Gegenteil: Hermann Lübbes Ausdruck vom „kollektiven Beschweigen“ treffen für das Rees der Nachkriegszeit zu. Auch vielen ehemaligen Zwangsarbeitern fiel es sehr schwer, über die Zeit im Lager zu reden. Dennoch kam es zu Prozessen gegen die meisten Kriegsverbrecher, die das Lager Rees zu einem solchen Schreckensort gemacht hatten. Die Erinnerung an die Zeit im Lager wurde in dieser Zeit nur von wenigen, selbst betroffenen Personen im Rahmen von vereinzelten Gedenkfahrten und dem Pflegen persönlicher Kontakte aufrechterhalten.  Erst in den 1980er Jahren konnte die Geschichte durch das Engagement der  Nachkriegsgeneration davor bewahrt werden, völlig in Vergessenheit zu geraten. Der Beitrag zu einem bundesweiten Schülerwettbewerb stieß in Rees eine Entwicklung an, die über die Grenzen von Generationen hinaus eine aktive Erinnerungskultur etablierte. Folglich wurden die Jahre 1983 und 1984 in dieser Arbeit als Wendepunkte der zweiten Geschichte des Lagers herausgearbeitet. Geradezu modellhaft spiegelt diese Phase der intrinsisch motivierten Aufarbeitung in Rees den Zeitgeist der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte wider.

In den Niederlanden ist seit der Jahrtausendwende, vor allem durch die herausragenden Publikationen über das Lager Rees, ein sehr lebendiger Umgang mit der Vergangenheit entstanden. Die verschiedenen Formen der Aufrechterhaltung der Erinnerung haben bis zur Gegenwart einen transnationalen Charakter erreicht, dessen vorläufigen Höhepunkt die gemeinsamen Gedenkveranstaltungen darstellen. Die Aufarbeitung der Geschichte des Lagers kann jedoch keineswegs als abgeschlossen bezeichnet werden. Ebenso bleibt abzuwarten, inwiefern die jüngsten Bemühungen den Bekanntheitsgrad der Geschichte des Lagers über die Grenzen der näheren Umgebung der Stadt hinaus steigern können. Das Nachwort des Wettbewerbsbeitrags der vier Schüler aus dem Jahr 1983 kann seine Gültigkeit daher nicht verlieren: Es müssen auch in Zukunft große Anstrengungen unternommen werden, damit die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten.

 

Bibliographie

Quellen:

Briefe:

Brief von H. M. Krimp an den Reeser Stadtdirektor Nienhaus 29.02.1952, Stadtarchiv Rees (AR524).

Brief von H. M. Krimp an den Reeser Stadtdirektor Nienhaus 23.04.1952, Stadtarchiv Rees (AR524).

Brief von R. van Norde an J. Becker 12.2007, Sammlung Josef Becker.

Zeitzeugenberichte:

Bericht des Italieners Secondo Marinaz, in: Ein Italiener in Rees, hg. und übers. v. Dietrich Zielke, Rees 1985.

Bericht des Leiters Technische Noodhulp 24.12.1944, zitiert nach: Disberg: De verzwegen Deportatie, Anhang 4.1.1.

Becker, Josef: Bienen in Bildern, Erinnerungen und Berichten, Rees-Bienen 2010.

Becker, Josef: Niederländische Zwangsarbeiter in Bienen und Umgebung 1944/45, Rees 1995.

Krimp, Hermanus M.: Waar bleven onze mannen, Bloemendaal/Haarlem/Heemstede 1947.

Krist, Jan: De hel van Rees, Bedum 1989.

Zeitzeugeninterview mit Jan de Louter 11.08.2014, CD im Anhang.

Zeitungsartikel:

De Gelderlander 28.11.1984, zitiert nach: Disberg: De verzwegen Deportatie, Anhang 8.8.

Haarlems Dagblad 24.04.1952, Stadtarchiv Rees (AR524).

Hengelose Courant 28.11.1984, zitiert nach: Disberg: De verzwegen Deportatie, Anhang 8.8.

Het Vrije Volk 20.06.1945, zitiert nach: Disberg: De verzwegen deportatie, Anhang 4.7.

Nieuwe Apeldoornse Courant 22.08.1950, zitiert nach: Disberg: De verzwegen deportatie, Anhang 10.1.3.

Rheinische Post 10.05.1984, Sammlung Bernd Schäfer.

Rheinische Post 22.11.1984, Sammlung Bernd Schäfer.

Sonstige Quellen:

Catalogue of camps and prisons in Germany and German-occupied territorries. Sept. 1st, 1939 – May 8th, 1945, Volume II, in: Das nationalsozialistische Lagersystem, hg. v. Martin Weinmann, Frankfurt a. M.³ 1998.

Diskussionsforum zu Andere tijden. De Sinterklaas razzia, URL:

http://www.geschiedenis24.nl/andere-tijden/afleveringen/2011-2012/DeSinterklaasrazzia.html#disqus_thread [Download vom 05.09.2014].

Einladungsschreiben zur Einweihung des Mahnmals Rees, Sammlung Josef Becker..

Informationsseite über den Audio-Spot in Megchelen, http://liberationroute.de/ niederlande/historischer-ort/rescue-operation-rees- labour-camp [Download vom 04.09.2014].

Thiel, Ruben/Gohl, Johannes/Kemkes, Kai/Rösen, Benedikt: Kriegsende in Rees, Rees 1983.

TV-Dokumentation Andere tijden. De Sinterklaas razzia, http://www.geschiedenis24.nl/ andere-tijden/afleveringen/2011-2012/De-Sinterklaasrazzia.html#disqus_thread [Download vom 04.09.2014].

van der Eem, Ton: Eerherstel voor oom Geer: een zoektocht naar de waarheid. URL:

http://www.vandereem.org/verhalen%20gerardus.html [Download vom    05.09.2014].

Website der Zwangsarbeiterstiftung Apeldoorn, https://dwangarbeidersapeldoorn.nl/ [Download vom 04.09.2014].

Wetterkarten des DWD, URL: http://www.wetterzentrale.de/topkarten/fskldwd.html [Download vom 03.09.2014].

Literatur:

Assman, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.

Baganz, Carina: Lager für ausländische zivile Zwangsarbeiter, in: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Band 9, hg. v.

Wolfgang Benz/Barbara Distel, München 2009, S. 248-270.

Behrendt, Norbert: Das Elend vor der Haustüre – Schanzen bis zum Umfallen, in: Kriegsschicksale aus Millingen und Umgebung, hg. v. KAB St. Josef Millingen, Millingen 2013, S. 316-333.

Brumlik, Micha: Ein singulärer Lernprozess? Die Bundesrepublik Deutschland und die

Lehren des Holocausts, in: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, hg. v.

Katrin Hammerstein/Ulrich Mählert/Julie Trappe/Edgar Wolfrum, Göttingen 2009, S. 73-85.

Disberg, Arend: De verzwegen deportatie, Apeldoorn 2005.

Disberg, Arend: Familie Hollaender/de AMEFA. https://dwangarbeidersapeldoorn.nl/ 2008/04/familie-hollaender/ [Download vom 04.09.2014].

Fühner, Harald: Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945-1989 (Niederlande-Studien Bd. 35), Münster/New York/München/Berlin 2005.

Heer, Hannes: Das Ende einer Ausstellung. Über den Freispruch der Täter, die angebliche Mitschuld der Juden und das Entfernen der Bilder, in: Weiter erinnern? Neu erinnern? Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft des Umgangs mit der NS-Zeit, hg. v. AK Erinnerungskultur in der Marburger Geschichtswerkstatt, Münster 2003, S. 63-128.

Hickethier, Knut: Nur Histotainment? Das Dritte Reich im bundesdeutschen Fernsehen, in: Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, hg. v. Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach, München 2009, S. 300-317.

Kraus, Stefan: NS-Unrechtsstätten in Nordrhein-Westfalen. Ein Forschungsbeitrag zum

System der Gewaltherrschaft 1933-1945: Lager und Deportationsstätten, Essen 2007.

Kuhlen, Klaus: Das Zwangsarbeiter Groin (Teil 2), in: Reeser Geschichtsfreund 7 (2014), S. 48-85.

Reichel, Peter: Erfundene Erinnerung – Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Frankfurt a. M. 2007.

Röger, Maren: Geistig-moralische Wende, in: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, hg. v. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz, Bielefeld 2007, S. 226.

Spiliotis, Susanne-Sophia: Zeit der Verantwortung. Zur Geschichte der Zwangsarbeiterentschädigung durch die deutsche Wirtschaft, in: Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, hg. v. Hans-Christoph Seidel/Klaus Tenfelde, Essen 2007, S. 103-114.

Steinmetz, Anja: Schmidt-Begin-Konflikt, in: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, hg. v. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz, Bielefeld 2007, S. 224f.

Verkijk, Dick: De Sinderklaas razzia van 1944, Soesterberg 2004.