Winter 1944/ 45 – Erinnerungen an das Zwangsarbeiterlager in Rees – Groin. Vor 69 Jahren begannen auf dem Gelände am Eck Melatenweg/ Albert-Einsteinstraße in Rees-Groin die Vorbereitungen zur Einrichtung eines Zwangsarbeiter-Lagers.Gelände. Sie erinnert sich daran, wie grausam die deutschen Wachleute junge Niederländer, Polen, Russen und Männer aus weiteren Ländern peinigten. Als Anfang Dezember 1944 die ersten niederländischen Zwangsarbeiter im Lager Groin bei Rees eintreffen, ist Hanni Fink 15 Jahre alt. Damals wohnt sie mit ihrer Mutter und zwei Brüdern in der Werkswohnung Nr. 2 am südlichen Ende der Dachziegelei Boers.
Erst im November sind hier – in den Trockenschuppen der Ziegelei – notdürftig Unterkünfte für Zwangsarbeiter eingerichtet worden. Bis Ende Dezember werden nun mehr als 2700 Männer nach Groin deportiert; die meisten von ihnen sind junge Niederländer. Es treffen aber auch Angehörige anderer Nationen ein, Russen, Rumänen, Ungarn, Polen, Franzosen, Belgier und Italiener. In den folgenden Wochen werden sie unter unmenschlichen Bedingungen Lauf- und Panzergräben ausheben, um für die Deutsche Wehrmacht ein Verteidigungsbollwerk gegen die vorrückende Front der Alliierten zu schaffen. „Woran ich mich besonders erinnere“, erzählt Hanni Fink, „ist, dass die Leute zu Anfang gut und gepflegt aussahen, und dass sie zwei Monate darauf, kaum noch wiederzuerkennen waren. Die Augen rot gerändert, total abgemagert, die Kleider verdreckt.
Viele gingen ja bei uns am Haus vorbei, direkt vor unserem Wohnzimmerfenster her. Neben unserem Haus war ein Weg von vielleicht zwei Metern Breite, und da musste alles durch. Ich erinnere mich noch an einen feinen Herrn, der hatte eine schöne vergoldete Brille und einen gestreiften Anzug, der war Uhrmachermeister oder so etwas Ähnliches. So wie er da in Holland in seinem Laden gestanden hat, haben sie ihn mitgeschleppt nach Rees, kein Mantel, keine Mütze, keine festen Schuhe. Und dann hab‘ ich ihn nach einigen Wochen wieder getroffen, da hab‘ ich drei Mal hingeguckt. Hab‘ dann schließlich gedacht, doch das ist er. Die Augen ganz verkrustet, mager … schlimm. Die haben da wirklich ‘was mitgemacht, ganz bestimmt.“
Heute weiß man durch vielfältige Zeitzeugenberichte von Niederländern, wie katastrophal damals die Lebensumstände im ‚Lager Groin‘ gewesen sind. Viele der hierher verbrachten Zwangsarbeiter nächtigen zunächst in den nach allen Seiten offenen Trockenschuppen der alten Ziegelei. Einige Hundert Männer pfercht man in ein riesiges Zelt. Erst nach Ankunft der Niederländer werden mit Stroh ausgestopfte Trockenregale vor die Wände der Schuppen gestellt, um einen Windschutz zu erhalten. Doch die Dächer aus Tonziegeln sind löchrig. In den länglichen Ziegel-Depots zieht es durch unzählige Spalten und Ritzen. Pro Mann gibt es nur eine Wolldecke. Das Stroh auf dem Lehmboden ist nach kurzer Zeit von Läusenestern übersät. Tagsüber müssen die Internierten schanzen, Lauf- und Panzergräben zwischen dem Altrhein in Bienen und dem Dorf Millingen.
Anfang Januar 45 bricht der Winter ein. Es fällt Schnee, dann wieder Regen. Die Schuhe und die Bekleidung der Zwangsarbeiter werden von Tag zu Tag schlechter. Nach Wochen sind die Männer nur noch in Lumpen gekleidet. Bei Regenschauern müssen sie weiter graben, bis sie durchnässt sind. Die bald gefrorene Erdoberfläche kann nur noch mit Spitzhacken aufgebrochen werden. Nicht selten stehen die Schanzenden im Grundwasser, das sich in den Gräben sammelt. Immer mehr Männer leiden an Erfrierungen bei Händen und Füßen. Dazu kommt der Hunger. In der zweiten Februarhälfte werden die Brotrationen knapp.
Die wässrige Kohl- und Kartoffelsuppe, die im Lager ausgegeben wird, nährt kaum. Viele essen Rüben von den Feldern. Außerdem drohen Strafen für kleinste Vergehen. SA-Lagerwachen und auch Volkssturmmänner prügeln unbarmherzig mit Knüppeln auf die geschwächten Gefangenen ein, etwa wenn jemand in der Marsch-Kolonne zurückfällt, bei Verspätungen am Sammelplatz, oder wenn ein Hungernder bei der Zivilbevölkerung um Brot gebettelt hat. „Hinter unserem Haus lag ein Platz von vielleicht 20 Metern Breite“, berichtet Hanni Fink weiter. „Und daran schloss sich direkt der lange Ziegeleischuppen, in dem die Zwangsarbeiter schliefen, an.
Die Giebelseite lag also direkt vor uns. Diese war auch abgesperrt worden mit Trockengerüsten. Aber wenn man von innen drückte, dann konnte man die Gerüste ein wenig auf Seite schieben, so dass ein Spalt entstand. Und durch diesen Spalt sind die Holländer immer wieder herausgekrochen und haben sich abgesetzt, was sie natürlich nicht durften. Und dann gingen sie in die Stadt, nach Rees, um da etwas Essbares zu besorgen. Viele Frauen haben damals für die Zwangsarbeiter mit gekocht. Und wenn sie dann in der Stadt gewesen waren, dann mussten sie auf ihrem Rückweg ins Lager ja wieder bei uns am Haus vorbei. Aber ich habe nie jemanden von ihnen schreien oder jammern gehört. Die sagten gar nichts. Die gingen wortlos wieder davon.
Und morgens, das erste, was passierte war, dass die Toten aus dem Lager herausgefahren wurden. Es war ja Winter, ein kalter Winter mit Frost und Schnee. Und dann kamen die Wachleute mit einem Karren am Haus vorbei. Das waren flache Karren, mit denen früher der Lehm transportiert wurde. Da lagen die Leichen drauf, vielleicht vier, fünf oder sechs, die waren steif gefroren, die Arme und Beine von sich gestreckt. Wissen Sie, das sind Bilder, die wird man nie mehr los. Da war ich dann fertig für den ganzen Tag. Als junges Mädchen war mir die Tragik der Ereignisse gar nicht so bewusst“, sagt Hanni Fink schließlich, „das kam erst Jahre später.“
Heute allerdings denkt sie oft nach über das, was damals vor ihrer Haustüre geschah und hält regen Kontakt zu Arend Disberg, dem Vorsitzenden der ‚Stiftung Zwangsarbeiter (im niederländischen) Apeldoorn‘. Und für Arend Disberg ist das, was Hanni Fink damals gesehen hat, hochinteressant, schildert sie doch das Leiden der holländischen Zwangsarbeiter einmal aus der Perspektive einer damals jungen Deutschen.
Bearbeitet nach Interviews mit Hanni Fink geb. Postulart am 5. Januar 2013 und am 29. März 2013. Fassung vom 30. Oktober 2013, Einige Passagen aus der Ursprungsfassung vom 6. April 2013 wurden herausgestrichen. Mehrere Textpassagen wurden neu erstellt. Clemens Reinders
Leave A Comment